Buchempfehlung. Eine Rezension von Stefan Dietsche.
Die Autorin Sibylle Reith beschreibt eine ganze Gruppe von Erkrankungen, die sie treffend als ignorierte „Zivilisations-Erkrankungen zweiter Klasse“ bezeichnet. Im Vergleich zu den bekannten „Non communicable diseases“ wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus oder Atemwegserkrankungen zeigen sich hier wesentlich komplexere Beschwerdemuster, die sich nur sehr schwer einordnen lassen.
Zu diesen „multisystemischen „Ganzkörper“-Erkrankungen“ zählt die Autorin folgende „Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen / EmKE“:
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Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Erschöpfungs-Syndrom / ME/CFS,
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die Multiple Chemikalien Sensitivität / MCS und
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das Fibromyalgie-Syndrom / FMS
sowie zahlreiche verwandte Ausprägungen, z.B. das Mastzell-Aktivierungssyndrom / MCAS, das Posttraumatische Belastungssyndrom / PTBS, die elektromagnetische Hypersensitivität / EHS, die Ehlers-Danlos-Syndrome / EDS, die Depression, Borreliose und Toxoplasmose, das Sick-Building-Syndrom, sowie weitere umweltbedingte oder Autoimmun-Erkrankungen.
Das Post- (bzw. Long-)COVID-Syndrom / PCS wird von ihr als eine weitere, neuartige Erkrankung beschrieben. Dessen völlig unzureichende soziale und medizinische Versorgung offenbart die jahrzehntelangen Versäumnisse in der Wahrnehmung verwandter systemischer Krankheiten.
Das Buch kreist letztlich um die Frage: Sind multisystemische Komplex-Erkrankungen „medizinisch nicht erklärbar“ oder sind Befunde nicht vielmehr „nicht auffindbar mit der üblichen Diagnostik“? Die jahrzehntelangen Kontroversen zwischen der biopsychosozialen und der „komplexmedizinischen“ Sichtweise werden ebenso beschrieben wie die Stigmatisierung und Psychiatrisierung, die Betroffene erleben. Diese Aspekte spiegeln sich bis heute in Offenen Briefen und Petitionen.
Die Autorin zeigt die jahrzehntelange Vernachlässigung auf allen Ebenen auf. In der Epidemiologie – es gibt z.B. keine belastbaren Daten zu den tatsächlichen Prävalenzen – in der biomedizinischen Forschung, in die kaum Gelder investiert werden; es gibt keine behördlichen Anlaufstellen, in unterschiedlichem Ausmaß ist weder die ambulante noch die stationäre Versorgung gewährleistet – ganz zu schweigen von palliativer Fürsorge.
Als „multistressorische Gesamtlast“ bezeichnet die Autorin die vielfältigen Reize und Trigger, denen wir heute ausgesetzt sind. Der Begriff „Stressor“ wird wesentlich weiter gefasst als in der klassischen Stressforschung: Neben psychosozialem Stress stehen gleichwertig chemische, physikalische, biologische und weitere Faktoren. Die Autorin macht deutlich, dass die industriell geprägte Lebensweise die Gesamt-Bevölkerung schwächt: Die Zahl chronischer, zivilisationsbedingter Erkrankungen steigt Jahr für Jahr.
Vorindustrielle Erkrankungen würden den heutigen so wenig wie Äpfel den Birnen gleichen, zitiert die Autorin den Mitochondrien-Spitzenforscher Robert K. Naviaux. Dessen grundlegende Forschung zur „Cell-Danger-Response“ wird ausführlich beschrieben, wie überhaupt ein umfangreicher Überblick über die aktuelle biomedizinische Forschung gegeben wird. Internationale Studien bezeugen diagnoseübergreifende Veränderungen in den Regulations-Systemen, in der Zellkommunikation, in der Genexpression und in der Energieproduktion sowie kraftzehrende schwelende Entzündungsprozesse. Die Bedeutung der Klinischen Umweltmedizin wird ebenso wie die Schlüsselrolle der silent inflammation, erklärt. Allein das Quellenverzeichnis umfasst 25 Seiten.
Frau Reith argumentiert und belegt, dass für das Verständnis der Erworbenen multisystemischen Komplex-Erkrankungen / EmKE ein systemmedizinisches Problembewusstsein unabdingbar sei.
Die Autorin gibt nicht vor, Lösungen zu präsentieren. Ihre Hinweise auf innovative diagnostische und therapeutische Pfade präsentiert sie als Beitrag zum systemmedizinischen und gesellschaftlichen Diskurs.
Die Fülle der Themen, die in 42 Kapiteln in kompakter Weise vorgestellt werden, können hier nicht vollständig erwähnt werden, es sind schlicht zu viele: Von systemischen Zahn- und Kiefer-Erkrankungen über die „Instabile Halswirbelsäule“ und die Bedeutung des Mikrobioms bis hin zu Genderaspekten (weit überwiegend sind Frauen betroffen) und zur Situation multisystemisch erkrankter Kinder und der Bedeutung der Personalisierten Medizin.
Fast alle Themen dieses Buches sind umstritten und an vielen Stellen wird deutlich: Die Translation der Forschung in den Ärzte-Alltag dauert zu lange. Das ganze Buch ist ein Plädoyer für eine wissenschaftsbasierte, bessere Versorgung multisystemischer Erkrankungen.
Die Sicht auf die akribisch recherchierte Spitzenforschung wird ergänzt durch die Perspektive als ursprünglich selbst betroffene Patientin, daher fließen die Alltags-Erfahrungen diverser Selbsthilfegruppen mit ein. Und die sind oft so bitter, dass man sich das kaum vorstellen mag.
Die Qualität des Buches liegt im gekonnten In-Beziehung-Setzen ganz unterschiedlicher Faktoren und in der klaren Strukturierung. Es geht weit über ein medizinisches Fachbuch hinaus. Das Kompendium bietet in einzigartiger Weise einen Überblick über die variantenreiche Gruppe multisystemischer Krankheitsausprägungen. Man wünscht dem Buch viele Leser, die die medizinischen, sozialen und gesundheitspolitischen Impulse aufnehmen.
Trotz der Komplexität ist der Text stets gut verständlich. Das aufwändig gestaltete Layout unterstützt die Lesbarkeit.
Erwähnenswert ist auch der umfassende Serviceteil mit Informationen über Patienten-Organisationen, Literaturempfehlungen, Fachzeitschriften, Fortbildungen, Tagungen und Hinweise auf Labore.
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Reith, Sibylle (2021): Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Über die unterkomplexe Wahrnehmung und
Versorgung komplexer Erkrankungen. ISBN 978-3-347-41850-9.